Titel
Ich will leben. Ein russisches Tagebuch 1932-1937


Autor(en)
Lugowskaja, Nina
Erschienen
München 2005: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Hellbeck, Dept of History, Ruthgers University

Keine fünfzehn Jahre alt ist die Moskauer Schülerin Nina Lugowskaja, als sie 1933 in ihrem Tagebuch notiert: “Tagelang habe ich mir abends im Bett vorgestellt, wie ich ihn umbringe. Und dieser Diktator macht noch Versprechungen, dieser Unmensch, dieser Lump, dieser gemeine Georgier, der Russland zugrunde gerichtet hat. Wie ist es bloß dazu gekommen, dass das große Russland, das große russische Volk zur Gänze einem Gauner in die Hände gefallen ist? Dass Russland, das so viele Jahrhunderte um seine Freiheit gekämpft und sie endlich errungen hat – dass dieses Russland sich plötzlich selbst versklavt? Rasend vor Wut ballte ich die Fäuste. Ihn umbringen, [unleserlich] so schnell wie möglich!”

Dieses Zitat ist kein Einzelfall. An vielen Stellen in ihrem Tagebuch kommentiert Nina Lugowskaja die Zustände im kommunistischen Russland mit äußerster Schärfe, und es ist wohl vordringlich der politischen Brisanz ihrer Chronik zuzuschreiben, dass sie seit ihrer Entdeckung in einem russischen Archiv vor wenigen Jahren in vierzehn Sprachen übersetzt worden ist und nun auch in einer deutschen Ausgabe vorliegt. Die Politik überschattet das Tagebuch: mit Sorge verfolgt Nina das Schicksal ihres Vaters, eines von den Bolschewiken in den Untergrund getriebenen Sozialrevolutionärs. Zu Anfang der 1930er-Jahre lebt er noch zusammen mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Moskau. Nach dem Kirowmord wird er jedoch verhaftet.

Das Tagebuch bricht im Januar 1937 ab, unmittelbar vor einer Wohnungsdurchsuchung des NKWD, bei der neben Unterlagen des Vaters auch Ninas Tagebuch beschlagnahmt wird. Wenig später werden Nina, ihre Schwestern und ihre Mutter verhaftet und wegen “konterrevolutionärer” Aktivitäten zu je fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. In Ninas Fall stützt ihr Tagebuch die Anklage: der ermittelnde Staatsanwalt unterstrich mit Rotstift alle ihm “antisowjetisch” erscheinenden Passagen. Diese Unterstreichungen sind in der vorliegenden Edition kenntlich gemacht und eröffnen den Leser/innen eine zusätzliche, faszinierende Lesart des Tagebuchs – die des sowjetischen Geheimdiensts. Nach der Abbüßung ihrer Haft musste Nina Lugowskaja für weitere sieben Jahre im sibirischen Exil bleiben, bevor sie nach Moskau zurückkehren konnte, wo sie 1993 starb.

Bemerkenswert ist Nina Lugowskajas Tagebuch freilich nicht nur in politischer Hinsicht. Schonungslos protokolliert die jugendliche Verfasserin ihre alltäglichen Hoffnungen und Verzweiflungen und gibt so Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt. Sie notiert ihre Schwärmereien für Mitschüler und Lehrer genauso wie ihr gleichermaßen von Eifersüchteleien und Nähe geprägtes Verhältnis zu ihren Schwestern, sie leidet unter ihrem Aussehen und schwankt zwischen überschwänglichen und grüblerischen, bis hin zu Selbstmordgedanken reichenden Stimmungen.

Weil das Tagebuch auf anrührende Art Probleme der Adoleszenz im Rahmen eines politischen Unterdrückungsregimes schildert, hat man seine Verfasserin schon zur “russischen Anne Frank” erhoben. Anne Frank und Nina Lugowskaja seien beide “verdammt” gewesen, schreibt Ljudmila Ulitzkaja im Vorwort zur deutschen Ausgabe, mit dem Unterschied, dass Anne Frank um die Gefahren wusste, die ihr drohten, während Nina Lugowskaja und zahllose andere ihrer Mitbürger unbewusst in die Menschenfalle des sowjetischen Terrors geraten seien. Der Wert von Lugowskajas Tagebuch, so Ulitzkaja weiter, bestehe darin, dass sie niederschrieb, was viele damals dachten, aber “nicht einmal zu flüstern wagten” (10). So enthalte das Dokument auch ein “gutes Gegengift für alle, die das ‚sowjetische Projekt’ noch immer verlockend finden” (12).

Dieses Urteil mag auf den ersten Blick schlüssig erscheinen, es vernachlässigt jedoch das spezifische Milieu, in dem das Tagebuch entstand. Nina war zweifelsohne von den politischen Überzeugungen ihres Vaters beeinflusst, eines Funktionärs der in den oppositionellen Untergrund getriebenen Partei der linken Sozialrevolutionäre, der trotz wiederholter Haftstrafen seinen antibolschewistischen Ansichten nicht abschwor. Noch aus der Verbannung versuchte der Vater auf die Erziehung seiner Töchter einzuwirken. In Briefen schrieb er ihnen vor, welche Bücher sie zu lesen hätten, was ihnen gut täte (Willenstraining, Selbsterziehung, kritisches Denken) und was sie tunlich lassen sollten (Mitmarschieren bei sowjetischen Festtagsdemonstrationen, Streben nach kleinbürgerlichem Glück). Selbst Ninas Entscheidung, Tagebuch zu führen, mag unter dem Einfluss des Vaters gestanden zu haben, der betonte, wie wichtig es sei, die “epochale” Gegenwart, eine “Zeit, die im Leben einer Nation nur alle paar Jahrhunderte auftaucht”, schriftlich festzuhalten. Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese für das Verständnis des Tagebuchs essentiellen Briefe des Vaters zwar in der russischen, nicht jedoch in der deutschen Ausgabe enthalten sind. 1

Ganz im Sinne ihres Vaters träumt Nina vom heldenhaften Freiheitskampf und fürchtet, dass ihr Tagebuch mit all den in ihm festgehaltenen Eingeständnissen ihrer Schwächen vom Vater gelesen werden könnte, der sie daraufhin als “albernes, beschränktes Mädchen oder als sentimentale Träumerin und Melancholikerin” entlarven würde (21.3.1934, S. 144). Ihr Bestreben, sich die kämpferische Haltung des Vaters anzueignen, wirkt manchmal wie eine kindische Pose, etwa wenn sie aufgebracht die Verlegung eines eigentlich schulfreien Tags kommentiert: “Morgen gehen wir zwar zur Schule, aber der Geist der Rebellion ist schon zu tief in uns verwurzelt. All diese Ungerechtigkeiten von oben versetzen uns in Rage und haben nur zur Folge, dass wir den Kampf aufnehmen und versuchen, uns zu behaupten. Wir geben nie kampflos auf. Also kämpfen wir auch dieses Mal.” (17.1.1935, S. 257). Freilich entgingen auch diese Zeilen nicht dem Rotstift des ermittelnden Staatsanwalts.

Gemessen am grandiosen Maßstab einer heroischen Existenz begreift Nina ihr eigenes Leben als gescheitert. “Pessimismus und Jungens, Jungens und Pessimismus” (27.6.1936, S. 384), so fasst sie selbst die Leitthemen ihres Tagebuchs zusammen. Die harsche Selbstkritik dient zugleich aber auch als Mahnung und Ansporn; insofern liest sich das Tagebuch auch als eine fortgesetzte Disziplinartechnik, die Nina Lugowskaja keinesfalls allein praktizierte. Die “Arbeit an sich” ist ein Leitthema in vielen Tagebüchern der Stalinzeit, und das Bemühen der Verfasser, sich zu aktiven, gesellschaftlich nützlichen und weltanschaulich geschlossenen “Persönlichkeiten” zu erziehen, lässt erkennen, wie der revolutionäre Imperativ im Inneren wirkte und das Denken und Fühlen von sowjetischen Bürgern ganz unterschiedlicher Herkunft strukturierte. 2

Auch Lugowskajas Ausruf, “Ich will leben,” von den Herausgebern als Buchtitel gewählt, fügt sich in diesen Kontext. Nina, die diese Worte wiederholt in ihrem Tagebuch notiert, verband damit jedoch nicht – in Analogie zu Anne Frank – ihren Überlebenswillen unter unmenschlichen Bedingungen. Vielmehr diente er als Schlusspunkt von Eintragungen, in denen sie mit ihrer, wie sie fand, rein negativen und destruktiven Sichtweise des Lebens abrechnete. Wirklich zu leben, das hieß für sie, ihrer Grübelei und ihrem Pessimismus zu entkommen, der sie zu einer “alten” und “unnützen” Person stempelte. Sehr deutlich wird hier, wie die Verfasserin in die lebensbejahende Kultur der Stalinzeit eingebunden war und wie sehr auch die vom Regime unablässig betriebene “Agitation zum Glück” den einzelnen Zweifler in die Vereinsamung trieb und atomisierte. 3

Nina Lugowskajas Tagebuch liest sich fesselnd. Forscher/innen, die sich mit der Kindheits-, Jugend- und Geschlechtergeschichte befassen, werden es mit besonderem Gewinn lesen. 4 Darüber hinaus eignet es sich, gerade auch zusammen mit anderen veröffentlichten Tagebüchern aus der Sowjetzeit, für einen breiteren nicht-russischsprachigen Leserkreis. Gemindert wird der Wert der vorliegenden Ausgabe jedoch durch eine Anzahl von editorischen Mängeln. Nicht nur, dass der bereits erwähnte Briefwechsel zwischen dem Vater und seinen Töchtern fehlt, auch sind wesentliche Passagen aus dem Tagebuch gekürzt worden – darunter Verweise auf den Spanischen Bürgerkrieg oder auf einen Romanhelden Maxim Gorkis, die Lugowskaja im Einklang mit dem sowjetisch-revolutionären Wertekanon zeigen (Eintragungen vom 27.4.1935 und 6.11.1936). Marketing-Überlegungen waren wohl ausschlaggebend dafür, dass die deutsche Ausgabe das Tagebuch als einen Fund aus dem KGB-Archiv anpreist. Hingegen gibt die russische Ausgabe als Fundort das Staatsarchiv der Russischen Föderation an. Dort landete das vom NKWD 1937 beschlagnahmte Tagebuch wohl in den 1950er-Jahren im Zusammenhang mit Nina Lugowskajas wiederholten Bemühungen, als Sowjetbürgerin rehabilitiert zu werden.

Die Herausgeber der deutschen Ausgabe wären gut beraten gewesen, Irina Osipovas kenntnisreiche und umsichtige Einleitung aus der russischen Erstausgabe zu übernehmen. Stattdessen stoßen die deutschen Leser/innen auf drei kurze Begleittexte, ein Vorwort und zwei Kommentare, von denen keiner sorgfältig auf das Tagebuch und seine Autorin eingeht. Immerhin beschert Ljudmila Ulitzkajas sprunghaftes Vorwort einen gewissen Erkenntnisgewinn. Es verweist auf das ungebrochene Bedürfnis im gegenwärtigen Russland, die sowjetische Vergangenheit durch ein simplistisches Schwarz-Weiss-Prisma zu erfassen. Der historischen Aufarbeitung öffnet sich hier ein weites Feld.

Anmerkungen:
1 Vgl. Chocu zit’. Iz dnevnika skol’nicy, 1932-1937. Po materialam sledstvennogo dela sem’i Lugovskich, hg. von I.I. Osipova, Moskau: Formika-S, 2003.
2 Siehe hierzu: Hellbeck, Jochen, Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge, 2006; Kharkhordin, Oleg, The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices, Berkeley, 1999.
3 Vgl. Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit, hg. von Gaßner, Hubertus, Bremen, 1994; zur vitalistischen Kultur der Stalinzeit und deren Wurzeln siehe Glatzer Rosenthal, Bernice, New Myth, New World: from Nietzsche to Stalinism, University Park, 2002.
4 Vgl. unter anderen: Kuhr-Korolev, Corinna, "Gezähmte Helden". Die Formierung der Sowjetjugend 1917-1932, Essen, 2005; Sowjetjugend 1917 - 1941. Generation zwischen Revolution und Resignation, hg. von Kuhr-Korolev, Corinna, Essen, 2001.
[5] Das wahre Leben, Tagebücher aus der Stalin-Zeit, hg. von Garros, Véronique, Berlin, 1998; Tagebuch aus Moskau 1931-1939, hg. von Hellbeck, Jochen, München, 1996; Das Tagebuch der Nina Kosterina, München, 1973.

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